Der Verlag ab 1945

Nächster Stopp: Weltunternehmen

Unmittelbar nach Kriegsende beginnt der Wiederaufbau. Bevor im Januar 1946 die Verlagslizenz neu erteilt wurde und bald darauf die erste Druckmaschine wieder zu arbeiten begann, bauten die heimgekehrten Mitarbeiter ihren Verlag unter zum Teil abenteuerlichen Bedingungen mit eigenen Händen wieder auf. Als so der Fortbestand des Verlages gesichert war, konnten die „großen Unternehmungen“, wie Vötterle es nannte, angegangen werden.

Flaggschiff der Bärenreiter-Gesamtausgabe: Die Neue Bach-Ausgabe (1954–2007)

„Die großen Unternehmungen“

Das Kriegsende bedeutete auch das Ende einer Fixierung auf Deutschland. Als viel bewundertes Exempel für ein international ausgerichtetes Verlagswerk steht die MGG, die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Nach längeren Vorarbeiten konnte im Juni 1949 die erste Lieferung an die Subskribenten verschickt werden. Wegen einer enormen Zunahme des Stoffs musste das Werk mehrmals erweitert werden, ehe es 1987 nach 17 Bänden vollendet wurde.

Eine ebenso große Reputation brachte dem Verlag die Herausgabe von wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgaben ein. Mit Christoph Willibald Gluck, Sämtliche Werke (ab 1951), Georg Philipp Telemann, Musikalische Werke (ab 1953), mit der Neuen Bach-Ausgabe (1954–2007), der Neuen Mozart-Ausgabe (1955–2007), der Hallischen Händel-Ausgabe (ab 1955), der Neuen Schütz-Ausgabe (ab 1955), der Neuen Schubert-Ausgabe (ab 1964), der New Berlioz Edition (1967–2006) gelang es, für Musikpraxis und Wissenschaft gleichermaßen Notenbände von einem hohen editorischen Standard bereitzustellen. Weitere Editionen (Franz Berwald, Niels Wilhelm Gade, Leoš Janáček, Leonhard Lechner, Orlando di Lasso, Jean-Philippe Rameau, Sergei Rachmaninoff, Gioachino Rossini, Giuseppe Tartini) kamen hinzu.

Verpflichtung zeitgenössische Musik

Mit dem Kriegsende waren die politisch vorgegebenen Barrieren in den Künsten gefallen. Für Bärenreiter bedeutete dies auch die Möglichkeit, die zeitgenössische Musik stärker in den Fokus zu nehmen. Die Zahl der Uraufführungen von Verlagswerken nahm zu, darunter zahlreiche Aufsehen erregende musikalische Ereignisse, z. B. Ernst Krenek, Lamentatio Jeremiae Prophetae (1958), Bohuslav Martinů, Rhapsody-Concerto für Viola und Orchester (1953), Bernd Alois Zimmermann, Musique pour les soupers du Roi Ubu (1966), Klaus Huber, Soliloquia. Oratorium (1962/1964), Giselher Klebe, Der jüngste Tag (1982), Matthias Pintscher, Thomas Chatterton (1998), Beat Furrer, FAMA (2005), Manfred Trojahn, Orest (2011), Miroslav Srnka, South Pole (2016), Dieter Ammann, The Piano Concerto (Gran Toccata) (2019), Andrea Lorenzo Scartazzini, Zyklus von Orchesterstücken zu Gustav Mahlers neun Symphonien (2018–2025) und viele andere.

Der Verpflichtung, neben der Musik der Vergangenheit auch die der Gegenwart zu verlegen und zu fördern, wird Bärenreiter damit seit Jahrzehnten gerecht.

Karl Vötterle und Ernst Krenek 1958

Spektakuläre Uraufführung: Miroslva Srnkas Oper South Pole 2016 an der Bayerischen Staatsoper München (Foto: Wilfried Hösl)

Expansion

Seit den 50er-Jahren standen alle Zeichen auf Expansion, was sich auch in Übernahmen und Neugründungen von Niederlassungen zeigte. Zu den Unternehmen, die unter dem Dach der wachsenden Bärenreiter-Verlagsgruppe Fortbestand und neue Perspektiven fanden, gehören der Nagels-Verlag (1952), die Alkor-Edition (ehemals Bruckner-Verlag, 1955), der Gustav Bosse Verlag (1957), Henschel Musik (1991). Zu den Vertretungen im Ausland kamen nach Basel – noch 1944 als mögliche Ausweichstätte gegründet – New York (1958), Paris (1962, von 1971–1980 in Tours) und London (1963) hinzu. 1998 folgte Editio Bärenreiter Praha. Nach einem mühsamen Privatisierungsprozess wurde der Notenverlag aus dem ehemaligen tschechischen Staatsverlag Supraphon herausgelöst. Heute arbeiten in Prag knapp zwanzig Mitarbeiter und beschäftigen sich überwiegend mit dem reichen Erbe der tschechischen Musik. Außerdem vertritt Bärenreiter Praha als Vertriebsstandort Bärenreiter in den Staaten Osteuropas

Beethoven bei Bärenreiter: ohne ihn nicht denkbar. Jonathan Del Mar erhellt auch das kleinste Detail

Das Musikbuchprogramm gewann an Quantität und Qualität. Neben Spezialuntersuchungen aus der Musikwissenschaft zählen Studienbücher, Nachschlagewerke, Biographien und allgemein verständliche Werkeinführungen zum Katalog. Trotz der Revolutionen des elektronischen Zeitalters wagte sich Bärenreiter an eine zweite Ausgabe seiner großen Enzyklopädie MGG: Von 1994 bis 2008 erschien das 29-bändige Werk, das weit über die klassische Musik hinaus alle Teilgebiete der Musik auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand darstellt.

Längst bei den Musikern angekommen, die praktischen Ausgaben, hier die Klaviersonaten des Meisters aus Bonn

Zu den neuen Zielen gehörte in den letzten Jahren besonders die Ausdehnung des Notenprogramms. Waren es noch bis weit in die 90er-Jahre überwiegend die Komponisten der Bärenreiter-Gesamtausgaben, deren Werke für die Praxis auf den Markt gebracht wurden, geht nun die Tendenz dahin, ein möglichst breites Spektrum aus dem klassisch-romantischen Repertoire bis zum frühen 20. Jahrhundert anbieten zu können. Mit der Edition von Ludwig van Beethovens neun Symphonien durch den Engländer Jonathan Del Mar begann 1996 die Öffnung des Verlagsprogramms. Es folgten Brahms, Chopin, Debussy, Elgar, Grieg, Ravel, Satie, Skrjabin, Smetana, Vivaldi und viele andere.

Das neu geschaffene Label „Bärenreiter Urtext“ machte Anspruch und Qualität der Editionen sichtbar und schuf eine klar wiedererkennbare Optik.

Auch im Opernbereich wurden großen Anstrengungen unternommen. So bietet die sukzessive Herausgabe der Bühnenwerke von Händel und Rameau Theatern überall auf der Welt Möglichkeiten zur Repertoireerweiterung. Auch aus dem romantischen Opernschaffen schafften es bislang kaum gespielte Werke wie Halévy La Juive regelmäßig auf die Bühnen.

In die Jahre gekommen Editionen von Opern wie Bizets Carmen, Dvořáks Rusalka oder Gounods Faust wurden durch Editionen auf der Basis moderner Quellenbewertung ersetzt.

Abbildung: Tschechische Nationaloper: Antonín Dvořáks Rusalka 2023 am Royal Opera House London mit Asmik Grigorian in der Titelpartie, erstmalige Verwendung der Neuedition von Bärenreiter Praha (Foto: Camilla Greenwell)

Generationenwechsel

1975 starb Karl Vötterle, der seinen Verlag über 52 Jahre geleitet hatte. Auf das weltweite Ansehen des Unternehmens, das schon damals bestand, konnten seine Tochter Barbara Scheuch-Vötterle und ihr Mann Leonhard Scheuch aufbauen, die seine Nachfolge antraten. An Herausforderungen mangelte es trotz der etablierten Marktstellung nicht. Die Konzentration auf die Kernkompetenzen des Verlags gehörte dazu. Sämtliche Programmbereiche, die nicht mit Musik zu tun hatten, wurden aufgegeben oder verkauft. Auch die hauseigene Druckerei wurde geschlossen.

Triumvirat: Barbara, Leonhard und Clemens Scheuch 2023

Der nächste Generationswechsel vollzieht sich geräuschlos. Seit 2021 ist Clemens Scheuch neben seinen Eltern dritter Geschäftsführer des Bärenreiter-Verlages, der 2023 und 2024 sein hundertjähriges Bestehen feiern konnte. Aus der kleinen Augsburger Wohnzimmerfirma ist schon lange ein stabiles Weltunternehmen in Sachen Musik geworden, dessen Noten von Kapstadt bis Oslo, von Buenos Aires bis Tokio, von Los Angeles bis Sydney benutzt werden.

Johannes Mundry

Frischer Wind: Das Verlagsgebäude im Jubiläumsjahr 2023

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